Kaede starrte in das Glas vor ihm. Toorus ruhige, kultivierte Stimme und das leise Gespräch, dass dieser mit Hiroshi führte, nahm er nur als leises Murmeln wahr, die Musik, die in dem Club lief, hörte er so gut wie gar nicht. Er starrte in das Glas, sah dem Wirbel des schwarzen Nektars in der Klarheit des Vodkas zu, sah, wie sich die Schlieren um die großen Eiswürfel legten, darüberglitten und sie wieder freigaben. Er bildete sich fast ein, dass er kleine, feine Risse sehen konnte, die sich langsam mehr und mehr durch das Eis zogen.
Es gab Momente, in denen er sich selbst nicht wiedererkannte. Er wusste, er konnte zickig sein. Manchmal. Eigentlich selten. Normalerweise schaffte er es recht gut, mit Dingen zurechtzukommen, die ihm entgegengeworfen wurden.. überreagieren brachte nie etwas, aggressiv zu werden gleich überhaupt nicht. Genausowenig brachte es etwas, anderen das Gefühl zu geben, dass ihre Entscheidungen nicht richtig waren. Davon abgesehen war das auch einfach Schwachsinn, weil es meistens weder richtig noch falsch gab.. nur eine Wahl.
Das alles war nicht fair, aber Ryo hatte ihn zur Weißglut gebracht, und was auch immer mit Kaedes Selbstbeherrschung und Contenance los war, sie hatte sich in Luft aufgelöst. Vielleicht war das auch gut gewesen, weil sich all das immer weiter angestaut hatte, aber trotzdem tat sogar die Erinnerung daran weh, und Kaede konnte es einfach nicht vergessen.
Er seufzte leise und lehnte sich etwas mehr gegen Hiroshis Seite.
Kaede hatte so großen Respekt vor Ryos Entscheidung, und er fühlte ehrliche, tiefe Zuneigung, weil Ryo seinen Wunsch dafür verwendet hatte, um Tenshis Welt schöner zu machen. Genaugenommen mochte er Ryo wirklich sehr, und es kam ihm oft so vor, als ob er und Ryo sich ziemlich ähnlich sein könnten.. nur dass Ryo all den Schmerz noch in sich trug und ihn einfach nicht losließ. Dass es ihm scheinbar noch nicht möglich war, nach vorne zu sehen und zu erkennen, wie gut er war. Kaede würde einiges darauf verwetten, dass Ryo das Gute, was er tat, nicht einmal wahrnahm, nicht einmal, wenn man es ihm ins Gesicht sagte. Er war sich sicher, dass Ryo hauptsächlich die negativen Dinge hörte und alles andere als selbstverständlich ansah. Dass er Ryo mochte, führte nur dazu, dass das alles noch mehr weh tat. Streiten war in Ordnung, streiten gehörte zum Leben, aber zum Streiten gehörte auch, sich wieder zu vertragen.. und er war sich nicht sicher, ob Ryo das wollte.
Hiroshis sanften Kuss auf die Wange erwiderte er mit einem Lächeln und einem Kuss seinerseits, dann sah er ihm zu, wie er aufstand, um eine weitere Runde Drinks zu holen. Er hatte nicht einmal gemerkt, wie er sein Glas langsam und stetig geleert hatte. Kurz sah er ihm hinterher, dann drehte er den Kopf - und sah direkt Toorus ruhigen Blick, der ihn unverwandt ansah.
"Was?"
"Hör auf damit."
"Womit?"
"Egal womit. Hör auf. Ich kenn den Blick. Hör auf damit."
"Too-kun, ich habe keine Ahnung, wovon du redest.."
Tooru schob ihm eine Zigarette über den Tisch, die Kaede automatisch annahm.
"Du grübelst. Du hast vorhin einfach genickt, als ich Hiroshi erzählt habe, dass du früher am liebsten die rosa Tüllröckchen meiner Schwester geklaut und hinterm Sandkasten versteckt hast. Nichtmal ein Augenrollen. Du grübelst." Das Licht des Feuerzeugs erhellte kurz Toorus Gesicht, dann beugte er sich zu Kaede, um ihm Feuer zu geben. "Du grübelst und fängst mal wieder an, dich abzukapseln. Lass es einfach."
"Ich war ein Biest.. eine richtige Zicke."
"Ja, und? Bist du manchmal, kann ich bestätigen. Weiter?"
"Ich hab mal wieder gedacht, ich weiß alles besser.."
"Uhmhm."
"Weißt schon.. ich hab auch mal wieder gedacht, ich weiß, was für jemanden das beste ist, und weil er das selbst nicht sieht, bin ich biestig geworden.."
"Mmhmhm."
Kaede setzte sich etwas gerader hin und zog ebenfalls energisch an der Zigarette. "Was?"
"Hm? Nichts, red ruhig weiter." Tooru lehnte sich etwas nach hinten und betrachtete Kaede weiter.
"Willst du mich verarschen, Tooru?"
"Niemals. Kriegst du am besten selbst hin."
Kaede atmete tief durch und schloss kurz die Augen. Was war los, er war schon wieder genervt, wütend.. dabei war er eigentlich glücklich. Er war wieder bei Hiroshi, Hiroshi hatte ihm Tooru zurückgebracht..
"Ich weiß nicht, was mit mir los ist, Too-kun."
"Alles gut mit Hiroshi..?"
"Was?? Ja! Ja, wundervoll.. ich bin total glücklich, ich.."
"Na also. Dann hör auf zu grübeln. Und ehe du dich von wem auch immer abkapselst, gib ihm oder ihr noch eine Chance, klar..?"
Kaede blinzelte. "Das ist total bescheuert.. ich kapsele mich überhaupt nicht ab. Wir haben uns doch nur gezofft, das ist doch normal."
"Na also. Dann ist doch alles gut, oder nicht?"
"Ich.."
Kaede blinzelte. Tooru hatte recht. Er war völlig bescheuert, überdramatisch. Ohhh, Ryo hatte sich noch nicht gemeldet. Vielleicht hatte er einfach sein Päckchen zu tragen und brauchte ein bißchen Zeit für sich? Ohhhh, er hatte nicht sofort gesagt, dass es ihm leid tat. Das hieß doch nicht, dass er für den Rest seines Lebens auf Kaede sauer war. Kaede beugte sich nach vorne, stützte die Stirn in seine Handfläche und rieb ein paarmal darüber. Ryo sollte sich die Zeit nehmen, die er brauchte. Und Kaede musste aufhören, das alles steuern zu wollen. Einfach Sachen nehmen, wie sie waren, wie er es eigentlich immer tat. Aufhören, ein Biest zu sein. Aufhören, zu meckern, weil Ryo Dinge anders tat. Und ehrlich sein und zu sehen, dass er selbst wahrscheinlich nach etwas mehr Grübeln oft das Gleiche tun würde.
Als Hiroshi wiederkam, nahm sich Kaede ein paar Minuten Zeit, ihn zu küssen - Tooru musste da durch - ehe er die nächsten zwei Stunden wieder in dessen Arm verbrachte und diesen auch auf dem Weg nach Hause nur verließ, wenn es absolut sein musste.
Als er nach Hause kam und das Paket vor seiner Tür sah, blinzelte er. Als er es öffnete, während Hiroshi im Bad war, und den neuen Mantel und die handgeschriebene Notiz darauf sah, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Vollkommen überreagiert und hineingesteigert. Er nahm sein Handy in die Hand, drückte den Mantel an sich, machte ein Foto, schickte es an Ryo und schrieb einfach nur ein Wort dazu.
"Danke!"